Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück

Spitzklipp

Wie oft er den steinigen Pfad von der Wiese hinauf zum Gehöft und wieder zurück gegangen war, hatte er nicht gezählt, auch nicht, wie oft er den anderen Knechten und Erik begegnet war. Am Morgen hatten sie noch gescherzt, dann kämpfte jeder wortkarg gegen Schweiß und Müdigkeit. Wir sind zweibeinige Heukopfwesen, dachte er und ich ersticke bald an dem Geruch.
Das Segeltuch, aufgebläht mit Heu, trug er auf Nacken und Schultern, die letzte Bürde für heute. In der Scheune entledigte sich Tyrkir seiner Last, faltete den Stoff und während er über den Hof schlurfte, kratzte er nach Flöhen. Überall mussten neue Beißer sitzen, unter dem Kittel, am Hals und auf den Armen.
Bis auf die beiden senkrechten Stämme, den Querbalken und die aus Treibholz gezimmerte Tür war nichts vom Haupthaus zu erkennen: ein länglicher Erd- und Grashügel, aus dem Rauch aufstieg, nicht mehr.
Der schmächtige Siebzehnjährige trat ein. Dunkelheit empfing ihn, modrig rochen die Grassoden zwischen den Flurstützen und nach drei Schritten öffnete er die Innentür.
“Trink was!” Gleich neben dem Eingang der Wohnhalle stand Erik am Fass, das rote Haar verschwitzt grinste er Tyrkir an, schöpfte Sauermilch und reichte dem Sklaven die Kelle. “Unsere erste Ernte. Den Göttern sei Dank! Sollst sehen, wenn wir unsern Stier und die Kühe über den Winter bringen, dann haben wir‘s geschafft.”
Durstig leerte Tyrkir den Schöpfer, tauchte ihn nochmals ein und trank wieder. Trotz des Standesunterschiedes verband ihn eine enge Freundschaft mit dem drei Jahre älteren einzigen Sohn des Bauern Thorvald. “Schmeckt heute besser als jedes Bier bei uns zu Haus.”
“Wir sind jetzt hier zu Haus!” Erik ballte die Faust. “Vergiss endlich Norwegen. Hier in Island! Und bei Thor, diese menschenleere, steinige Gegend wird uns nicht in die Knie zwingen. Niemals!”
“Schon gut. Ich glaub‘s ja auch. Nur reicht das Heu bis jetzt vielleicht einen Monat.” Ehe Erik etwas einwenden konnte, setzte Tyrkir hinzu: “Ja, ich weiß, wir haben noch drei Weiden mit gutem Gras gefunden. Ich weiß.”
Der Rothaarige warf die langen, zottigen Strähnen zurück und wandte sich um. Durch die Halle rief er: “Besser wird‘s, Vater! Unser kluger Deutscher meint es auch. Es wird gut gehen, du wirst schon sehen.”
Keine Antwort kam von der Hochbank mitten vor dem Langfeuer, das wie ein Glutband den Hauptteil der Halle durchzog. Der Schein huschte rechts und links über die Reihen der unbehauenen Stützstreben und verlor sich im Halbdunkel der beiden Seitenräume.
“Morgen sollten wir unser Schiff weiter auf den Strand ziehen, Vater. Wer weiß wie viele Tage das gute Wetter noch anhält.”
Keine Antwort. Erik verengte die Augen. Kein Handzeichen? Kein Kopfnicken?
Tyrkir zuckte die Achsel. “Der Herr schläft.”
“Ach was, bei meiner Stimme wacht jeder auf, selbst wenn er keine Ohren hat.” Jäh erstarb Erik der Scherz auf den Lippen.
Die jungen Männer sahen sich an und zugleich hasteten sie zum Ehrenstuhl. Dort saß Thorvald, starr aufgerichtet, den grauhaarigen Kopf an der Rücklehne, seine Augen stierten blickleer ins Feuer.
“Vater!?”
Tyrkir legte dem Freund den Arm um die zitternden Schulter. So standen sie lange, als warteten sie noch, hofften, dass die Wahrheit nicht wahr wäre.
Lärm, Gelächter näherte sich von draußen, die übrigen fünf Knechte kamen mit den beiden Mägden in die Halle.
Schnell ging Tyrkir ihnen entgegen und hob warnend die Hände. “Still. Schweigt! Der Herr ist tot.” Erst ungläubig, jedoch als sie den harten Zug im schmalen, sommersprossigen Gesicht wahrnahmen, begriffen sie. Die Frauen pressten ihre Lippen aufeinander, die Leibeigenen nickten, einer von ihnen stöhnte auf.
“Geht wieder hinaus, bis ihr gebraucht werdet! ”, sagte Tyrkir leise und kehrte um.
Der Sohn wartete bereits im Halbdunkel hinter seinem Vater. Langsam näherte sich Tyrkir, dabei blieb er eng an der rechten Reihe der Stützstreben; von einem toten Blick getroffen zu werden brachte Unglück. Nur das nicht, dachte er, zu groß war die Gefahr, dass sich der letzte Gedanke des Bauern in ihm einbrannte und auf ewig Qual bereitete. Er schlüpfte in den Seitenraum, tastete auf Tischen und Bänken nach einem Wolllappen und riss ihn zu kleinen Fetzen.
Schweigend verständigten sich die beiden. Sie waren bereit. Erik trat von hinten auf den Hochsitz zu, umgriff die Rücklehne und schloss dem Vater die Lider. Aus den Augenhöhlen würde kein Gedanke mehr hinausdringen.
Jetzt wagten sie sich vor den Toten. Nur schnell. Sie stopften ihm einen Wollfetzen in den Mund, verschlossen mit Pfropfen seine Nasen- und Ohrlöcher. Durch keine Öffnung durfte der nie sterbende Geist aus der schützenden Hülle des Körpers entweichen, um dann befreit ein Eigenleben zu führen und womöglich furchtbare Untaten zu begehen. Erst als auch das Afterloch Thorvalds versiegelt war, traten sie zurück.
“Warum muss er so hinüberziehen? Als ein Strohtoter”, murmelte Erik und schlug die Fäuste gegeneinander. “Vater war ein tapferer Wikinger. Gerade er hätte seinen Platz in Walhall verdient ...”
“Nicht jetzt, später”, unterbrach ihn Tyrkir und mahnte zur Eile. Die Mägde wurden hereingerufen, unter seiner strengen Aufsicht schnitten sie dem Leichnam Fuß- und Fingernägel aus dem Hautbett. Er selbst warf jedes Stück in die Glut, nichts durfte davon übrig bleiben und bald mischte sich Gestank nach schmelzendem Horn in den Rauch des Holzfeuers.
Erik befahl die Knechte zu sich. Beim Schein der Tranlampen ließ er hinter dem Hochsitz die Tische, Bänke und Kästen zur Seite räumen, schritt in gerader Linie bis zur Außenwand und bezeichnete dort ein großen Viereck. “Fangt an!”
Zunächst entfernten die Männer Gras und Erde aus den Fugen, lösten behutsam Stein um Stein, dann stießen zwei von ihnen ihre Spaten durch das klaffende Mauerloch in die Schutzschicht, während die anderen das Haus verließen und ihnen von draußen auf Zuruf entgegenarbeiteten. Immer wieder stürzte Erde nach, keine Höhle mehr, nur mit Mühe gelang es, den Stichgang zur Wandöffnung so schmal wie möglich zu halten.
“Das wird genügen.” Der Zwanzigjährige hob den Vater aus dem Hochsitz. Tyrkir fasste die Füße und ging voran, so trugen sie den Toten durch die Öffnung ins Freie. Einen guten Steinwurf entfernt legten sie ihn auf einer Klippe nieder. “Es ist weit genug.”
Tyrkir verschränkte die Arme. Hinter ihnen begannen die Knechte im Innern sofort wieder das Mauerwerk zu schichten, die Bresche zu schließen und ohne Pause würden sie die mannsdicke Schutzschicht auffüllen. “Wir wachen bei ihm, bis der Herr den Weg zurück ins Haus nicht mehr finden kann.”
Die Freunde starrten hinunter zum Schiff am Strand, hinaus aufs unruhige Meer und weiter bis zum Horizont. Auch wenn der Tag sich bald neigte, jetzt im Juli versank die Sonne zwar wieder, ihr fahles Licht aber würde die Nacht erhellen und entlang des Nordens zum Osten wandern, um dann erneut hinter dem Rand der Welt aufzusteigen.
“Ich trauere für ihn. Hätte er nur früh genug von seinem Ende gewusst, er hätte mich gebeten. Ich weiß es.” Tränen sickerten Erik in den roten Bart. “Ein kurzer Messerstich von mir hätte ihm zum Glück verholfen ... So aber muss er ins Totenreich der Hel ziehen.”
Tyrkir verstand den Kummer. Was bedeutete das düstere Jenseitsreich unter der Erde, verglichen mit den Freuden und Gelagen der Götterwelt? Dort oben in Asgard ritten Morgen für Morgen die ehrenvoll aufgenommenen Wikinger zum Kampfplatz, traten mit Äxten und Schwertern gegeneinander an. Eisenfunken sprühten, das Blut floss in Strömen und nach dem Streiten schlossen sich wieder alle Wunden.
Gemeinsam kehrten sie in die von goldenen Schilden überdachte Walhall zurück und speisten mit den Göttern. Täglich feiern sie dort oben rauschende Gelage, dachte Tyrkir, nie wird der Schöpfeimer mit süßem Met leer, nie gehen Speck und Fleisch des gesottenen Ebers aus.
Weil aber Thorvald nicht wie ein tapferer Krieger gefallen war oder selbst den Zeitpunkt des Todes bestimmt, sondern hier alle Lebenskraft verbraucht hatte, musste er durch Kälte und Dunkelheit ins Reich der Göttin Hel wandern. Sein Weg führte an wildreißenden Flüssen entlang, bis er den goldenen Steg, der sich über eine der zerklüfteten Schluchten spannte, endlich erreichte. Über ihn gelangte er zur Halle der Strohtoten.
Dort thronte Hel inmitten der Schattenwesen und bot einen Anblick des Grauens: Leib und Gesicht der unerbittlichen Göttin waren halb schwarz und halb blau, allein ihre Augen glühten. Sie würde Thorvald seinen Platz in der schweigenden Schar anweisen. Und dann gab es nichts mehr für ihn, nicht die kleinste Abwechslung, nur Langeweile bis ans Ende aller Zeiten.
“Der Herr war stets gut zu mir.” Tyrkir las einen Kiesel auf und drehte ihn in der Hand. “Damals, als er die Mutter und mich kaufte, da hatte ich große Angst vor ihm. So klein war ich und so mager.”
“Dafür bist du klug und geschickt, das hat den Vater beeindruckt.”
Die Knechte riefen. Allein die frisch angepresste Schicht aus Grassoden zeigte noch, wo die Öffnung gewesen war. Sie hatten schnelle Arbeit geleistet und kamen herüber.