Warum? Die Frage war zu groß, keine Antwort würde je ausreichen. Goldrun irrte über das Schlachtfeld, die Augen geweitet. Die Lippen bebten beim Anblick der Pferdeleiber, der toten Kämpfer, hingemäht durch Pfeile, Speere und Schwerter.
Niemand hatte die Zehnjährige zurückgehalten, selbst ihre Mutter nicht. Unvermittelt war sie aufgestanden, hatte den seilumspannten Pferch der Gefangenen verlassen und war an den Zelten der Wachposten vorbeigegangen. Eine zarte Gestalt, das Kittelhemd mit einem Lederriemen gegürtet; vom Stirnband wurde ihr goldrot schimmerndes Haar gebändigt und fiel erst im Nacken lockig über die Schultern. Sah sie zum blassen Himmel und weiter nach Westen in den versinkenden Sonnenstreifen am Horizont, schien ihr die Welt so friedvoll wie gestern, blickte sie zu Boden, schrie der Tag sie aus aufgerissenen Gesichtern der Erschlagenen an.
Goldrun wich aus, suchte immer wieder einen neuen Pfad. »Es ist nicht wahr.« Verwundert lauschte sie ihrer Stimme; der helle Klang hob sich über das Elend und kehrte zu ihrem Mund zurück. »Ich weiß es.«
Schon am Rande der ausgedehnten Flussniederung war das Gras nicht mehr grün gewesen, war getränkt vom schwärzlichen Blut, die Blumen zertreten. Jetzt aber gab es kaum noch einen freien Fleck, auf den sie ihren Fuß setzen konnte. Unzählige Hügel aus Schilden, Helmen und Körpern mit zerrissenen Kleidern, zerfetzten Panzerhemden türmten sich vor ihr auf. Wie kahle Strünke wuchsen Pfeile und Speere aus den Toten. »Aber er wartet doch auf mich.« Zitternd stieg Goldrun über die Leichen, war bemüht, nur auf Eisen zu treten, ihre Sandalen aber rutschten immer wieder ab. Mit einem Mal bemerkte sie, dass lichtlose Augen sie von unten anstarrten und sie spürte das Grauen zwischen ihren nackten Beinen hochkriechen, sich in die Haut einnisten. »Nicht. Lasst mich.« Goldrun tastete nach dem ledernen Amulettbeutel unter ihrem Hemd und stapfte weiter.
Bilderfetzen kamen, drängten sich auf: In der Frühe hatte der Vater lachend von der Mutter Abschied genommen und war hoch zu Ross, gerüstet mit Kettenpanzer, Schwert, Lanze und Schild aus dem Hof geritten. »Heil König Gunther! Heute werden wir den Feind besiegen und davonjagen!«
Wie stets, wenn er in den Kampf zog, wartete Goldrun draußen vor dem Tor auf ihn. Sie wollte die Letzte sein, der er Lebewohl sagte. »Schönste Dame meines Herzens!« Er senkte die Lanze. »Kein Gegner wird mich daran hindern, zu Euch heimzukehren.« Goldrun hatte ihm noch lange nachgewunken. Die Morgensonne ließ den Helm blinken. So stark wie der Vater ist kein anderer Ritter im ganzen Reich der Burgunder, hatte sie voller Stolz gedacht. Ganz allein kann er den König und uns beschützen.
Als am späten Nachmittag das Waffengeklirr in der Rheinebene schwächer geworden war, keine langgezogenen Tubastöße zum erneuten Angriff erschallten, dafür das Siegesgeheul der hunnischen Horden lauter und lauter gellte, hatte die Mutter den kleinen Giselher an sich gedrückt: »Das Glück hat sich von uns abgewandt. Der Vater kommt nicht mehr. Wir sind jetzt allein, Mädchen, du, dein Bruder und ich.«
Goldrun verstand die Worte nicht, hatte die Mutter nur verwundert angeblickt. Dann kamen Reiter auf struppigen Pferden wie ein Sturmwind auf den Hof. Wer sich von den Knechten nicht gleich ergab, dem spalteten sie den Schädel. Die übrigen wurden zusammen mit den Frauen und Kindern wie Vieh zu den Gefangenen in die Weide neben dem flachen Tümpel getrieben. Goldrun hatte hinüber zur Hauptstadt gestarrt: Die Tore waren geborsten. Flammen schlugen aus den Häusern. Schwarze Rauchwolken stiegen. Worms brannte.
»König Gunther ist tot«, hörte sie die Frauen flüstern. Weinen und Jammern wurden lauter. »Unsere Männer sind gefallen. Großer Gott erbarme dich. Was wird nun aus uns?«
Die Mutter wiegte Giselher auf den Knien. Verloren sagte sie immer wieder vor sich hin: »Der Vater kommt nicht mehr ... Der Vater kommt nicht mehr ...« Nein, das ist nicht wahr, hatte Goldrun gedacht, er wartet nur, dass ich ihn abhole. Dann war sie aufgestanden ...
Nun ängstigte, bedrohte sie längst die Wirklichkeit. Süßlicher Geruch nahm ihr den Atem. »Vater!« Seit mehr als einer Stunde suchte sie schon vergeblich nach ihm. Dämmerung fiel. Inmitten der Leichenberge stand sie hilflos da. Tränen rollten ihr über die Wangen. Mit matter Stimme rief sie. »Vater, hörst du mich?« Seufzen. Nein, es klang eher wie ein Stöhnen.
»Vater?« Hoffnung weckte ihre letzten Kräfte. »Ich bin’s.« Erneut antwortete ein Stöhnen ganz in ihrer Nähe. Sie starrte in die Richtung, folgte hastig dem Geräusch. Nach wenigen Schritten aber verstummte es wieder. Goldrun beugte sich über einen niedergestreckten Kämpfer. Er lag mit dem Gesicht nach unten. Er trug das gleiche Kettenhemd wie der Vater. Behutsam drehte sie seinen Kopf und schreckte gleich vor dem aufgerissenen starren Mund zurück. Sie ging zum nächsten, lüftete den Helm; das Haar war nicht blond. Dem Nachbarn steckte ein Pfeil in der Kehle. Goldrun stolperte weiter. Ihr Herz pochte, hämmerte. Wohin sie auch blickte, überall glaubte sie den Vater zu erkennen, eilte zu ihm, und erst wenn sie sich niederkauerte, war es ein fremder Mann. »Tot! Alle sind tot!« Die Schultern sanken, sie wehrte sich nicht länger gegen die Wahrheit. »Mutter hat Recht«, schluchzte sie. »Der Vater kommt nicht mehr.«
Tiefes Ausatmen. Direkt hinter ihr. Goldrun fuhr herum. Nichts, nur das gleiche unfassbare Elend. So schwer wurden die Beine. Müdigkeit. Du darfst nicht schlafen, befahl sie sich. »Ist da jemand?« Sie schleppte sich weiter. »Ich hab dich doch gehört.«
Wer es auch war, ganz gleich, sie wollte nur nicht allein sein. Vielleicht dort drüben? Goldrun musste einem gestürzten Pferd ausweichen. Es lag auf der Seite. Fliegen sirrten, bedeckten den wehrlosen Körper. Fast war sie schon vorüber, als sie erneut ein Seufzen vernahm. Die Stute hob den Kopf an, gleich sank er wieder zurück.
»Du warst es.« Goldrun hockte sich nieder, verscheuchte einen Schwarm der Plagegeister, sanft strich sie über den Nasenrücken bis zu den Nüstern. Bei der Berührung öffneten sich die langen Wimpern. Schmerz stand in dem fiebrigen Blick. Vertrockneter Speichel klebte am Maul und Kinn. »Ich helfe dir.« Sie löste die Lederriemen und streifte das Zaumzeug ab. Ihre Hand glitt tröstend über das weiche Fell an der Kopfseite und weiter zum Hals. Zorniger sirrten die Fliegen. Dann wurden ihre Fingerkuppen nass und warm. Auf Knien rutschte das Mädchen vor die Brust der Stute. Den Sattel hatte sie beim Sturz verloren, trug nur noch den schweren Schurz aus engmaschigen Eisenringen. Dieser Schutzmantel sollte Schwerthiebe und Lanzenstiche abwehren. Am Übergang zur Schulter aber klaffte eine tiefe Wunde. Blut quoll in Stößen heraus, rann in einer breiten Spur durchs Fell und versickerte im Gras.
Es war kein Gedanke, eine innere Stimme bat: Lindere die Qual. Goldrun legte beide Hände auf die pulsende Quelle. Das Blut war nicht einzudämmen. »Wie soll ich denn helfen?« Verängstigt blickte sie zum Himmel. »Heilige Maria, du Beschützerin. Lass uns nicht allein.« Kein Zeichen, keinen Rat erhielt sie von der göttlichen Mutter.
Nach einer Weile wischte sich Goldrun die Tränen von den Wangen. Dieser Kettenmantel ist zu eng, dachte sie, löste die Haken und schob den Schurz beiseite. »So kannst du leichter atmen«, tröstete sie mit leiser Stimme, »ich bin ja bei dir«, und wiederholte es, während sie mit hin und her wedelnder Hand die gierigen Fliegenschwärme von der Wunde fernhielt.
Lindere die Qual, verlangte die Stimme in ihr.
»Ich will es doch, aber ich weiß nicht wie.«
Goldrun presste erschreckt die Lippen zusammen. Einmal war sie Zeugin gewesen, als auf dem elterlichen Hof ein Wallach erkrankt war. Zwei Tage lag er mit aufgeblähtem Leib im Stall, Krämpfe schüttelten ihn. So sehr sich der Vater auch bemühte, alle Kräuter und Tinkturen halfen nicht. »Es ist zwecklos, mein Mädchen.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Wir müssen das Tier von seinen Schmerzen erlösen.« Ohne Zögern nahm er sein Kurzschwert aus der Scheide, und ehe Goldrun begriff, hatte er dem Pferd mit einem harten Stoß die Klinge bis zum Heft ins Herz getrieben.
»Nein, das kann ich nicht«, flüsterte sie und strich über das klebrig braune Brustfell. Die Stute schnaubte leise. »Hab keine Angst.« Wenn ich nur das Blut stillen könnte. Entschlossen erhob sich Goldrun. Wenige Schritte von ihr entfernt entdeckte sie die Satteldecke. Mehr als die Hälfte des Tuches lag unter zwei gefallenen Kämpfern begraben. Goldrun fasste nach einem Zipfel und zerrte. Doch die Toten hielten den Schatz fest. »Lasst los, bitte.« Heftiger ruckte sie, mit einem Mal bewegten sich die Körper, rollten schwerfällig auseinander und gaben die Decke frei.
Erschöpft kehrte Goldrun zu ihrem Schützling zurück. »Ich bleibe bei dir«, tröstete sie. »Keiner von uns beiden muss allein schlafen.« Behutsam breitete sie das Tuch über die Wunde, den Hals und die Brust. Sie beugte sich nah ans Ohr der Stute. »Mehr weiß ich nicht.«
Nur halb öffnete sich das Lid. Der Schmerz war gewichen; ohne Weh, ermattet blickte das große braune Auge. Goldrun drückte ihre Lippen auf die samtige Haut über den Nüstern. »So ist es gut.«
Unterhalb der Halsbeuge rollte sie sich im blutnassen Gras zusammen, rutschte mit dem Rücken näher an den großen Leib. »Wir wärmen uns gegenseitig.« Mit der Hand zog sie einen Teil der wollenen Decke über ihren Kopf. Tief sog sie den Geruch des Tieres ein, Schweiß vermischt mit Süße. Jeder Atemzug betäubte mehr, vertrieb die furchtbaren Bilder des Tages; bunte Bänder schwebten auf und nieder; leise begann eine Stimme in ihr zu singen. Goldrun lauschte dem Klang, er hob sie auf und trug sie in den Schlaf hinüber ... Jäh fuhren zwei Drachen aufeinander los, kämpften. Mäuler mit riesigen Zähnen schnappten zu. Fauchend erhoben sich die Kolosse auf die Hinterpranken. Immer heftiger prallten sie mit den Köpfen zusammen. Dann riss der Stärkere dem Gegner einen Fleischklumpen aus dem Hals. Blut spritzte und regnete nieder. Das verwundete Ungeheuer schrie, stieß krächzende Laute aus. Der Schuppenleib wankte. Es stürzte ...
Goldrun wollte ausweichen, vergeblich, entsetzt öffnete sie die Augen und sah nichts. Ich liege unter dem Drachen ... Aber warum ist er so leicht? ... Klarer wurden die Gedanken. Sie spürte nur Stoff auf ihrem Gesicht. Ein Traum, dachte sie erleichtert und erinnerte sich an das Schlachtfeld, an die Stute, mit der sie die Decke teilte. »Keine Drachen«, flüsterte Goldrun. Aber das Kreischen wollte nicht verstummen. Vorsichtig schob sie das Tuch beiseite.
Der Morgen war angebrochen. Hoch oben am Himmel schimmerten rosafarbene Wolken. Jäh kam das Krächzen bedrohlich näher, schwarze Flügel verdunkelten den Blick. Raben flatterten dicht über ihr. Goldrun fühlte den Luftzug im Gesicht, dann floh die hungrige Meute davon.
Das Mädchen setzte sich auf und blickte den Vögeln nach. Nicht weit entfernt ließen sie sich auf einem Leichenhügel nieder. Ihre Schnäbel hackten in die Speise, die der Tod für sie aufgetischt hatte. Voller Ekel wandte Goldrun sich ab und hielt erschreckt den Atem an.
Direkt vor ihr standen Füße, sie steckten in Lederstiefeln. Unmerklich hob sie den Kopf. Die Schnürriemen reichten bis zum Knie. Eine Fellhose. Sie verschwand unter einem Schuppenpanzer aus Federn. Im breiten Gürtel steckte ein langer Dolch. Goldketten baumelten neben einem halb offenen Beutel, gefüllt mit blinkenden Ringen und Mantelbroschen.
»He? Was bist du?«
So fremd klang die Sprache. Kein Burgunder, dachte Goldrun. In der dunklen Stimme schwangen Unsicherheit und Drohung zugleich.
Sie blickte auf, sah die dünnen Bartsträhnen um den breiten Mund, die platte Nase, der lederne Helmsteg trennte zwei schwarze kleine Augen. »Ich bin ...« Der Hunne wich zwei Schritte zurück, gleich zückte er seinen Dolch. »Du kannst sprechen?«, keuchte er.
»Aber ja, ich bin die Tochter ...«
»Guck weg. Ein Geist der Toten. Du sollst mich nicht angucken.«
Goldrun begriff seine Angst nicht und hob die Hand. Da heulte der Hunne auf, sprang vor, schon holte er zum Stich aus.
»Nein!« Keinen Augenblick dachte das Mädchen an die eigene Gefahr, glaubte, er wolle die Stute töten, und warf sich schützend über die Brust des Tieres. »Nicht. Tu ihr nichts. Sie ist verletzt.«
Goldrun blieb so. Über sich vernahm sie den scharfen Atem des Kriegers, erst nach einer Weile ging er ruhiger. »Das Pferd ist lange schon tot«, murmelte er. »Du bist sein Geist.«
»Nein, so glaub mir doch«, flüsterte Goldrun. Sie wagte sich hinzuknien. Langsam drehte sie den Kopf. Wieder wich der Hunne vor ihr zurück, die gespreizten Finger der linken Hand hielt er vors Gesicht, seine Rechte fuchtelte drohend mit der Waffe. »Du bist aus dem Pferd geschlüpft. Ein Blutwesen. O verflucht. Vielleicht sehe ich dich gar nicht? Wieso versteh ich dich? Nur unser großer Schamane kann mit euch Dämonen sprechen.«
»Nein, ich bin nur ein Mädchen. Eine Burgunderin. Ich hab meinen Vater gesucht. Und dann hab ich die Stute gefunden.«
Während sie sprach, bohrte er sich mit dem Finger ins Ohr, heftig schlug er sich gegen die Kopfseite. Goldrun sah ihn staunend an. »Und ... und weil ich müde war, bin ich bei ihr eingeschlafen.«
»Das sagst du nur so. Aber warte.« Entschlossen steckte er die Waffe in den Gürtel und wandte ihr langsam den Rücken zu. Blitzschnell drehte er sich wieder um. Keine Täuschung. Das Wesen war immer noch da. Doch der Beweis genügte dem breitschultrigen, untersetzten Krieger nicht. »Mach die Augen zu«, knurrte er. »Wehe du guckst mich an. Ich komm jetzt zu dir.«
Goldrun gehorchte. Einen Atemzug später fühlte sie, wie seine Finger ihr klebriges Haar betasteten. Ein heftiger Ruck. Goldrun schrie auf und wehrte sich, schlug mit beiden Fäusten gegen den Arm. »Lass los! Du tust mir weh!« Er zog heftiger.
»Hör auf!« Der Schmerz trieb sie in Wut. »Du verdammter Hunne. Ekelhafter Kerl!«
Lachen, es begann tief in der Brust, dann lachte der Krieger lauthals, zog das Mädchen an den Haaren hoch und freute sich an dem Geschrei. Längst hatte Goldrun die Lider geöffnet, blitzte ihn aus blauen Augen an. Sie trat ihm gegen das Schienbein, krallte sich an die schwielige Faust.
»Ein wildes Fohlen! Da hab ich mich vor einem burgundischen Fohlen gefürchtet.« Ehe er sich versah, hatte Goldrun zugebissen. Mit einem überraschten Grunzen lockerte er kurz den Griff. Schon war sie ihm entwischt und lief auf den nächsten Leichenhügel zu.
Der Schreck gab ihr einen kleinen Vorsprung. Flucht aber weckt das Jagdfieber. Im federnden Sprung flog der Hunne über die Stute; noch zwei Sätze, und seine Hand griff von hinten nach Gürtel und Kittelstoff. So hob er das Mädchen vom Boden, hob es wie eine zappelnde Puppe höher, bis die Gesichter sich ganz nahe waren. »Du kommst mit mir«, knurrte er. »Entweder freiwillig oder ... Ich mein, du gehst auf deinen Füßen oder ...« Das seltsam ockerfarbene Leuchten rund um das Blau der Augen verwirrte, ließ ihn den Satz nicht beenden. »Na ja, ich könnte dich auch still machen. Das mein ich.« Er schüttelte seine Beute. »Was ist?«
»Ich lauf nicht mehr weg. Ich versprech’s.« Goldrun hörte auf sich zu wehren. »Bitte, lass mich runter.«
Er senkte den Arm. Erst dicht am Boden öffnete er die Faust und blieb wachsam über dem Mädchen stehen. Goldrun erhob sich. Ihr Blick suchte die Stute. »Darf ich?« Ohne seine Erlaubnis abzuwarten, ging sie langsam zu dem verendeten Tier hinüber. Noch einmal kniete sie sich nieder. Reglos lag die Stute da. Goldrun streichelte das Fell, ihre Fingerkuppen berührten die samtige Haut über den Nüstern. Wie sonderbar kühl war sie geworden! »Jetzt tut dir nichts mehr weh«, tröstete sie mit leiser wiegender Stimme und hüllte den Kopf mit der Satteldecke ein. »Ich muss fort. Schlaf du nur weiter.« Als Goldrun zu dem Hunnen aufblickte, bog er den Oberkörper zurück. »Vielleicht bist du doch ...?« Die schwarzen Bartsträhnen an den Mundwinkeln zuckten. »Ach was. Vorwärts jetzt.«
Zur Sicherheit griff er wieder in ihr langes Haar, zog aber nicht, sondern führte seine Beute wie ein Füllen an der Leine neben sich her.
»He, Keve, was für ein Tier hast du denn gefangen?« Breitbeinig erwarteten die Wachposten ihren Truppführer. »Gold und Schmuck solltest du einsammeln und nicht ...« Beim Näherkommen erstarb das Grinsen der Männer; sie sahen sich an, starrten wieder ungläubig auf das zweibeinige, über und über von schwärzlichem Blut beschmierte Wesen; langsam wichen sie zur Seite. »Maul halten«, zischte ihr Vorgesetzter und schritt mit dem Mädchen an ihnen vorbei auf die abgesperrte Wiese der Gefangenen zu.
Erst aus sicherer Entfernung rief ihm einer der Kumpane nach: »Wir haben Befehl zum Aufbruch! Gegen Mittag müssen wir beim Haupttross sein. Vorher aber teilst du mit uns die Beute. He, brauchst nicht mehr nach Sklaven und Weibern suchen, die besten sind schon auf den Karren. Beeil dich, Keve.« Er drehte sich nicht um, drohte ihnen nur mit erhobener Faust über die Schulter. Drei Wagen standen hintereinander, die Planen waren zurückgeschlagen. Aus den Augenwinkeln bemerkte Goldrun junge Frauen, hörte, wie sie sich gegenseitig trösteten. Auf den beiden anderen Ladeflächen lagen Männer, an Händen und Füßen gefesselt. Wenn der Vater im Herbst einen Teil unserer Mastschweine verkauft hat, erinnerte sie sich, dann hat er ihnen auch Stricke für den Transport angelegt. Vater? Jäh befiel Zittern die schmächtige Gestalt. Er kommt nicht mehr. Wo war die Mutter, wo Giselher? »Lässt du mich jetzt gehen?«
»Nein. Du gehörst mir.« Keve hielt kurz bei den Zugochsen inne, füllte einen Holzeimer aus dem Wassertrog und schob das Mädchen weiter. Innerhalb des seilumspannten Pferchs brummte er. »Waschen.«
»Warum?« Goldrun schüttelte den Kopf. »Was scherst du dich darum, wie ich aussehe?«
Sofort zerrte er an ihren Haaren.
»Ich, ich kann das nicht allein«, log sie tapfer und hoffte, dass er ihr glaubte. »Dabei muss mir meine Mutter helfen. Burgundische Mädchen dürfen sich nicht alleine waschen. Verstehst du?«
»Nein.« Für einen Moment betrachtete er unschlüssig seine Beute, dann spähte er über die Wiese. In Gruppen kauerten dort nur noch alte Frauen, zittrige Greise und Mütter mit Kleinkindern. »Meinetwegen. Wo ist sie?«
Goldrun ging voraus, und er blieb dicht hinter ihr. Bei der Mutter bin ich in Sicherheit; allein daran dachte sie. Das schmerzhafte Ziehen an ihrem Kopf störte sie nicht länger. Beim Vorübergehen bekreuzigten sich die vaterlosen Familien. Goldrun war es gleichgültig. Sie strebte eilig zum hinteren Ende der Weide nahe dem Tümpel hinüber.
Schon von weitem entdeckte sie die Mutter. Es schien, als hätte sich Frau Sighilde seit gestern nicht fortbewegt, als wäre dieser Platz der einzige Ort, der ihr noch geblieben war. Zusammengesunken saß sie da, die Stirn lehnte auf den angezogenen Knien.
Ihr kleiner Sohn stapfte um sie herum, in der Hand hielt er einen langen Stecken, wie Wächter die Lanze tragen. Dem kühnen Recken war anzusehen, dass er zugleich Burgherrin, Hort und seine letzte Zuflucht schützen wollte. Kaum näherte sich der Hunne mit dem besudelten Mädchen, verknautschte Giselher das Gesicht zu einer grimmigen Miene und streckte ihnen den Stock entgegen. »Traut euch nicht her! Wehe. Sonst ...«
»Dummer Kerl. Ich bin es doch nur.«
Beim Klang der Stimme vergaß der Fünfjährige den Mund zu schließen. Eine Weile beäugte er das Gesicht, schließlich nickte er. »Du bist viel zu dreckig. Das gibt Schimpfe.« Er berührte die Schulter seiner Burgfrau. »Mama, Goldrun ist wieder da.«
Ruckartig hob Frau Sighilde den Kopf, sah die Tochter und stieß einen Schrei aus. »O heilige Maria! Kind, bist du verletzt? O mein Gott, was hat man dir angetan?« Sie war auf den Füßen, ohne den Hunnen zu beachten, betastete sie die Brust, den Rücken. »Sag doch was? Hast du Schmerzen? Wo ist die Wunde? So sag doch.«
»Mir tut nichts weh. Hauptsache, dass ich wieder bei euch bin.«
Der breit gebaute Kämpfer setzte den Holzeimer ab. Grob stieß er der Mutter in die Seite. »Schluss jetzt, Weib.« Dann ließ er Goldrun frei. Sein Ton war hart. »Waschen! Sofort.« Zur Bekräftigung griff er sich Giselher und setzte ihm den Dolch an die Kehle.
»Bitte verschone den Jungen«, flehte Frau Sighilde. »Waschen? Ja, ja, ich gehorche.«
»Wird’s bald. Und kein Wort will ich mehr hören.«
Mit fahrigen Fingern riss sie einen breiten Fetzen aus dem Saum ihres Rockes. So gut es ging, rieb sie mit dem trockenen Lappen die Blutkrusten aus Goldruns Gesicht, vom Hals, von den Armen und Beinen. Auf ihr Zeichen hin entkleidete sich die Tochter. Auch der Körper war mit der schwärzlichen Schicht überzogen. Schnell arbeitete Frau Sighilde, immer wieder floh ihr Blick zu der Dolchklinge. Giselher hatte die Augen weit aufgerissen, wagte aber keinen Laut von sich zu geben. Jetzt trennte die Mutter einen zweiten Fetzen ab und tauchte ihn ins Wasser. Blieben auch schmierige Spuren vom Blut der Stute zurück, kam dennoch da und dort etwas Weiß der Haut zum Vorschein.
Auf dem Gesicht des Hunnen breitete sich ein Grinsen aus. »Kein Geistwesen«, brummte er. »Ein kleines Burgunderweibchen ist es.«
Als Goldrun niederkniete, den Kopf über den Eimer beugte und die Mutter das verklebte Haar auswusch, pfiff Keve beim ersten Schimmer leise zwischen den Zähnen. »Da ist ja Gold drunter. Da hab ich mir ein Goldfohlen gefangen. Sauber machen, Weib.«
Frau Sighilde hob verzagt die Arme und wagte zu sprechen. »Ich habe getan, was ich konnte. Aber das Wasser im Eimer ist inzwischen rot verfärbt. Besser geht’s nicht.«
Dumpfes Grollen entstieg der Brust des Hunnen. Einer der Kumpane kam über die Weide gelaufen. »Keve, verflucht, was treibst du da?«
»Halt’s Maul! Warte bei den Karren! Ich komme gleich.« Keine Geduld mehr. Er nickte zum Tümpel hinüber. »Da rein mit dem Fohlen.«
Die Mutter zögerte. Einen Augenblick zu lange. Blitzschnell bewegte sich die Dolchhand; ein Schnitt trennte Giselher die Hälfte des linken Ohres ab. Der Kleine schrie. Sein Peiniger presste ihm die Hand auf den Mund und erstickte den Schrei. »Wird’s bald.«
»Komm, Mädchen. Schnell.«
Goldrun bewegte sich nicht, fassungslos starrte sie den Bruder an, auf das Stück Ohrmuschel vor seinen nackten Füßen. Mit Gewalt wurde sie von der Mutter zum Teich gezerrt und ins flache Wasser geworfen. Erst als Goldrun prustend wieder auftauchte, stammelte sie. »Warum hat er das getan?«
»Still, Kind«, flehte Frau Sighilde unterdrückt. Ihre Hände rieben über Brust, Bauch, den Rücken, über Po und Beine.
»Aber er kann doch nicht ...«
»Sei leise. Sonst tötet er uns alle. Beug dich zurück.« Die Mutter bündelte am Nacken das lange Haar mit der Hand und schlug es aufs Wasser. Endlich löste sich die klebrige Masse aus den Strähnen.
Regungslos hatte der hunnische Truppführer vom Uferrand zugesehen. »Das genügt.«
»Gleich«, rief ihm die Mutter zu. »Wir spülen die letzten Flecken ab. Gleich.« Damit stellte sie sich so, dass ihm der Blick auf das Mädchen versperrt wurde. »Tauch noch ein Mal unter.«
Goldrun gehorchte. Und die Mutter zog ihr Kind an den Achseln behutsam, beinahe feierlich aus dem Wasser, drückte die nackte Gestalt an sich. »Amen. Ich hab dich geboren, Goldrun, und liebe dich.« Schneller flüsterte sie: »Nie darfst du uns vergessen. Hörst du? Die heilige Maria wird dich beschützen und wieder zu uns heimbringen.«
»Wieso? Ich bin doch hier.«
Die Lippen berührten das nasse Haar. »Ach, mein Mädchen. Mein schönes Töchterchen.«
»Raus aus dem Wasser! Sonst stech ich ...«
Frau Sighilde fuhr erschreckt herum. »Nein, bitte. Ich flehe dich an.« Sie führte Goldrun an der Hand auf ihn zu. Keine Empörung, kein Aufbegehren schwang in der Stimme. »Mein Mann liegt erschlagen auf dem Feld. Jetzt nimmst du mir auch die Tochter. Lass mir wenigstens den Sohn.«
»Komm mir nicht so, Weib.« Seine Bartsträhnen zuckten. »Ihr Burgunder habt vor Jahren Fürst Oktar und mehr als zwanzigtausend Männer meines Volkes hinterrücks abgeschlachtet. Rache ...« Für einen Atemzug lang flackerten die schwarzen Augen rechts und links des Helmstegs, gleich kehrte die Kälte wieder zurück. »Gib deinen Rock dem Fohlen. Der Weg ist weit. Es soll mir nicht erfrieren.«
Erst als die Mutter sich entkleidet hatte und den Stoff wie eine Tunika um den schmalen Köper wickelte, begriff Goldrun. »Ich will nicht weg, Mutter. Du darfst mich doch nicht einfach weggeben.«
»Es muss sein«, flüsterte Frau Sighilde und Tränen rollten ihr über die Wangen. Sie löste eine Nadelspange aus dem Haar und befestigte das Tuch an Goldruns Schulter. »Immer werde ich auf dich warten.«
Pfiffe gellten von den Trosswagen herüber.
»Schluss jetzt!« Der Hunne schleuderte Giselher zur Seite und packte nach dem nassen, rotgoldenen Haar. »Du kommst mit!«
Da sprengte Verzweiflung das ängstliche Herz. Frau Sighilde hob drohend die Faust: »Raubtier! Verflucht sollst du sein! Gott wird dich strafen.«
»Halt's Maul! Dein Christengott hat keine Macht über uns.« Er starrte auf den entblößten Unterleib der Frau und schnalzte mit der Zunge. »Festes Fleisch. So einen weißen Arsch verschmäht keiner bei uns im Lager. Sei nur froh, Weib, dass ich kein Raubtier bin. Sonst würd ich dich auch mitnehmen.«
Grob zerrte er das Mädchen von der Mutter und dem Bruder weg. Größer wurden seine Schritte, Goldrun musste neben ihm herlaufen und wehrte sich nicht. Was die Mutter ihr nachrief, verstand sie nicht mehr, das laute Weinen Giselhers übertönte die Worte. In ihrem Kopf setzte Rauschen ein, roter Nebel fiel, die Gesichter der alten Frauen und Greise verschwammen ineinander und lösten sich auf ...
Der hunnische Truppführer trug das ohnmächtige Mädchen zum Planwagen der gefangenen Burgunderinnen. »Gebt auf mein Fohlen acht!«, befahl er. Peitschen knallten. Die Zugtiere stemmten sich ins Geschirr. Bald gab es kein Lärmen mehr. Die letzten Beutewagen entschwanden im Horizont. Und nur das Weinen blieb …
Wie ein Orkan waren die hunnischen Reiterhorden über das Rheintal und die Stadt Worms hereingebrochen und hatten Verwüstung und Tod zurückgelassen. Drei Tage im September genügten, um das Reich der stolzen Burgunder zu vernichten. Man schrieb das Jahr 436 christlicher Zeitrechnung. Als Flavius Aëtius, der römische Oberbefehlshaber über alle Provinzen Galliens, vom blutigen Gemetzel am Rhein unterrichtet wurde, rieb er sich mit dem Handrücken über die hohe Stirn. »Zwanzigtausend Tote?« Sein Blick richtete sich gen Osten. »Attila, mein Freund, ich hatte dich um Beistand gebeten. Das aufrührerische Volk der Burgunder sollte gemaßregelt, nur in die Schranken gewiesen werden. Und du? Du schicktest zehntausend deiner reitenden Dämonen über die Donau, und wahllos fraßen sie Mensch und Tier. Welchen Befehl gabst du deinem Heerführer mit?«
Aëtius ließ sich Wein einschenken. In seiner Jugend hatte er zwei Jahre als römische Geisel am Königshof der Hunnen gelebt. Im Austausch für ihn verbrachte der Königssohn Attila diese Zeit als Unterpfand in der kaiserlichen Residenz zu Ravenna, lernte dort Sitten und Gebräuche des West-Imperiums kennen. Bei der vorzeitigen Rückkehr Attilas begegneten sich die jungen Männer und waren in der weiten Ebene Pannoniens gemeinsam einige Wochen auf die Jagd geritten. Noch unbeschwert von Ämtern und Pflichten hatten sie sich angefreundet. Zwei Welten trafen aufeinander, die eine beengt von steinernen Palästen, festgezurrt von Disziplin, Ordnung und Tradition, die andere nur geschützt von Zelten und hölzernen Behausungen, ungebunden, wild und allein den Gesetzen ihrer Stämme und der Natur unterworfen.
Inzwischen waren mehr als zwanzig Jahre vergangen. Attila herrschte nun neben seinem Bruder über die hunnischen Völker, und Aëtius selbst war nach einer steilen Karriere mit dem Rang eines Magister Militum, eines römischen Heerführers, ausgezeichnet worden. Heute war er der mächtigste Arm des Kaisers in Gallien.
Nach einem tiefen Schluck drehte Aëtius den Kristallkelch zwischen den beringten Fingern. »Du und dein Bruder Bleda, seid ihr noch Verbündete Roms? Seid ihr wirklich verlässliche Partner? Oder nur barbarische Könige über Steppenreiter, die für Gold rauben und plündern? Attila! Oder willst du etwa mehr?« Hart setzte er den Kelch zurück. Roter Wein ergoss sich über seine Hand. »Ich werde vor dir auf der Hut sein müssen. Dienen sollst du meinen Plänen, und niemals, niemals darfst du sie durchkreuzen.