Und morgen eine neue Welt
Rezensionen und Pressestimmen
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In seiner Romanbiographie „Und morgen eine neue Welt“ fächert Bestsellerautor Tilman Röhrig die entscheidenden Jahre im Leben Friedrich Engels auf, dessen Geburtstag sich im Jahr 2020 zum 200. Mal jährt.
Interview zu »Und morgen eine neue Welt«
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Piper-Verlag
Für Karl Marx war er nicht nur enger Freund und Impulsgeber für dessen Werk, sondern auch unverzichtbarer Mäzen. Durch die Irin Mary Burns lernt Friedrich Engels das elende Leben der Arbeiter kennen – und findet in ihr die Liebe seines Lebens.
(Auszug)
1
Brüssel, Rue de l’Alliance 5
Ende April 1845
Die Haustüre war nur angelehnt? Helene zögerte, betätigte den Klopfer erneut. Mit leisem Scharren schwang die Tür weiter nach innen. Sie blickte über die Schulter zu den beiden Herren auf der andern Straßenseite, wollte nachfragen. Gleich wandten die sich ab, verbargen ihre Gesichter in den hochgestellten Mantelkragen und schlenderten die schmale Rue de l’Alliance hinunter. Seltsam, dachte Helene, als ich mich vorhin nach dem Haus der Familie Marx erkundigte, sahen sie mich nicht an, sondern deuteten nur mit dem Daumen hier auf die Nummer 5.
Und diese Nummer hatte sie auch auf dem Zettel stehen, dazu stimmte die Straße, also musste sie an der richtigen Adresse sein. Aber nichts rührt sich im Haus. Vielleicht sind die Herrschaften kurz weggegangen?
Ich könnte auch drinnen warten. Helene fasste die Henkel ihrer Reisetasche fester, trat ein und lehnte die Haustüre hinter sich nur an. Säuerlich schaler Geruch stand im halbdunklen Flur. Ihr Fuß stieß an etwas Weiches. Sie beugte sich vor. Ein Mantel? Ohne Zögern setzte Helene die Tasche ab, hob das Kleidungsstück vom Boden, schlug es aus und hängte es zu den übrigen Jacken an die Garderobe. Weiter vorn entdeckte sie einen Zylinder, daneben eine Stoffpuppe, beides nahm sie auf, säuberte den Hut flüchtig mit dem Ärmel und stülpte ihn über den Haken. Die Puppe behielt sie in der Hand, zupfte an den verknoteten Haaren aus Wollfäden. Was ist hier geschehen?
Langsam ging Helene weiter. Nahe der Treppe ins erste Stockwerk stand rechts eine Tür halb offen. Vorsichtig spähte sie in den Raum. Kalter Tabakqualm verschlimmerte den Gestank. War das die Wohnstube? Stühle und Sessel kreuz und quer, auf dem großen ovalen Tisch lagen Brot- und Käsereste zwischen Gläsern und umgelegten Flaschen. In den übervollen Aschenbechern steckten Zigarrenstümpfe. Kerzen waren niedergebrannt, die Wachsstraßen zerlaufen und eingetrocknet. Ein Gelage, Helene rümpfte die Nase, deshalb stinkt es hier so.
In der hinteren Ecke entdeckte sie den Laufstall, sah den lockigen Kopf, das Mädchen kaute an einem weißlichen Holzstück. Da ist Klein-Jenny. Aber wieso allein? Sie trat ins Zimmer und ging in Richtung der vergitterten Spielecke. „Na, meine Süße. Hab keine Angst vor mir!“
Unvermittelt wurde ihre Hand gepackt. „Halt!“ Aus dem Sessel neben Helene wuchs ein Kopf, wirres dunkelblondes Haar, die hellen Augen stierten sie glasig an. „Angst kenn ich nicht.“ Die schwere Zunge hatte Mühe, die Worte zu formen. „Aber du ... du Schöne. Wie kommst du hierher? Du weißt, unsere Baronesse will das nicht.“ Der rötliche Randbart vom linken Ohr entlang des Kinns bis hin zum rechten Ohr verstärkte das Grinsen. „Meine Schöne.“
Helene spürte seine Finger unter ihrem Rock, zielstrebig strich die Hand den Schenkel hinauf, ehe sie es fasste, wurde ihr Po mit kräftigem Zugreifen betastet. „Was für ein Hintern.“
„Herr!“ Helene gab ihm eine schallende Ohrfeige. „Unterstehen Sie sich!“
Darüber lachte er, griff noch fester zu. „Was für stramme Backen!“
„Wagen Sie es nicht ...“ Nun hieb sie ihm rechts und links ins Gesicht. „Was erlauben Sie sich.“ Die Stimme wurde lauter. „Unverschämt, ich werde Frau Jenny ...“
„Still.“ Er zog die Hand zurück, raffte sich halb aus dem Sessel. „Nur still. Wecke die Baronesse nicht auf.“ Er nestelte vom offenen Hemdkragen die Knopfleiste hinunter bis zur Weste und klaubte ein Geldstück aus der Tasche. „Hier. Besser, du verschwindest. Warte nebenan ...“ Die Münze entglitt den Fingern und er sank zurück. Erneut überkam ihn der Rausch. „Du weißt, ich wohne im Nachbarhaus. Da ... da wartest du.“ Er schlief. Mit zitternden Lippen richtete Helene ihr Kleid. Dieser versoffene Schnösel. Behandelt mich wie eine Hure. So etwas ist mir ...
Lautes Kreischen. Das Mädchen im Laufställchen brüllte. Es hatte seine Beißwurzel verloren. Beide Ärmchen streckte es zwischen den Holzstäben hinaus, zu kurz, die Köstlichkeit lag zu weit weg.
„Ich helfe dir.“ Helene hob das schreiende Kind auf, schaukelte es, zeigte die Puppe, das Unglück aber war zu groß. Erst die klebrige Kauwurzel konnte das Mädchen beruhigen. Helene spürte, wie ihr Ärmel feucht wurde und roch an der Windel. „Jesses, du bist ja noch gar nicht versorgt. Das wird höchste Zeit. Erst aber suchen wir nach deinen Eltern.“ Mit der Kleinen auf dem Arm verließ sie, ohne den Kerl im Sessel noch eines Blickes zu würdigen, das Wohnzimmer. „Wir werden oben nachschauen.“
Aus dem Toilettenverschlag auf dem ersten Treppenabsatz roch es bedenklich. Helene schüttelte den Kopf. Da muss mit Soda geputzt werden.
„Wer ist denn da?“, rief eine Stimme von oben.
„Ich bin es. Helene ... Helene Demuth.“
Das Atemholen war deutlich zu hören. „Lenchen?“ Oben erschien eine Frau, dunkle Augen in einem schmalen Gesicht, die offenen Haare wellten sich über den Kragen des Nachthemdes, reichten bis zum Busen. „Aber, Lene! Heute schon? Ich dachte erst morgen ...“
„Aber, Frau Jenny? Die Baronin, Ihre Mutter hat Ihnen doch geschrieben.“
„Ist gleich. Dann habe ich den Tag verwechselt.“ Jenny Marx kam barfuß die Stufen hinunter, ihr Lächeln leuchtete. „Ich freue mich. Und sei herzlich willkommen. Ach, Liebchen, wie schön. Und Klein-Jenny hast du auch schon entdeckt.“
„Unten in der Stube. Da saß das Kind allein.“
„Weil Püppchen quengelte, habe ich es heute früh rasch runtergebracht. Sonst hätte sie mir meinen Mohr noch geweckt. Ich habe mich noch mal hingelegt und muss wohl wieder eingenickt sein.“ Frau Marx gähnte. „Ich bin zwar gestern vor allen anderen ins Bett, aber es war für mich doch schon sehr spät. Ich weiß gar nicht, wann die Männer gegangen sind.“
„Einer von denen liegt noch unten im Sessel.“ Die Falte auf Helenes Stirn verschärfte sich. „Und die anderen haben vergessen, die Haustür zu schließen.“ Sie stopfte die Puppe in ihre Manteltasche, behutsam strich sie dem Kind über die Locken. „Und Klein-Jenny. Niemand hat sich um dich gekümmert.“
Frau Marx hob den Finger. „Sei nicht so streng mit mir. Weißt du eigentlich, dass ich wieder schwanger bin?“
Großer Gott, dachte Helene, das eine Kind übersteigt doch schon die Kräfte, sagte aber: „Welch ein Glück. Da hat mich Frau Baronin gerade zur rechten Zeit geschickt.“
„Ein größeres Geschenk hätte mir Mutter im Augenblick nicht machen können.“
Nachdem Doktor Karl Marx über Nacht Paris wegen angeblicher politischer Hetze gegen das mit Frankreich befreundete Preußen verlassen musste und die junge Familie versuchte, in Brüssel Fuß zu fassen, hatte Baronin Caroline von Westphalen dem jungen Paar ihre Dienstmagd Helene Demuth zur Unterstützung für den Haushalt überlassen. Mit ihren 24 Jahren war Helene sechs Jahre jünger als Baronesse Jenny. Ihre Tatkraft, ihre Umsicht sollten dazu beitragen, in dem, wie die alte Dame sich ausdrückte, unsoliden Lebenswandel der Familie Marx etwas mehr Ordnung und Beständigkeit zu schaffen.
Helene tastete sich vor. „So fertig eingerichtet scheint mir das Wohnzimmer noch nicht? “ Ein verständnisvolles Lächeln. „Aber Sie sind ja auch gerade erst eingezogen.“
Da ballte Frau Marx die Faust und drohte in Richtung Südwesten. „Diese Franzosen. Halsabschneider!“ Nach der überstürzten Ausweisung ihres Mannes Anfang Februar 1845 war sie noch in Paris geblieben, hatte versucht, die Möbel und einen Teil der Wäsche zu verkaufen, um das Geld für die Reise nach Brüssel zu beschaffen. Außerdem sollte noch genug für eine neue Einrichtung übrigbleiben. „Nicht einmal für die Postkutsche hat es ganz gereicht. Bei Freunden musste ich mir den fehlenden Betrag erbetteln.“ Sie deutete nach unten. „Was da im Wohnzimmer steht, haben uns die anderen deutschen Flüchtlinge aus unserer Straße geliehen.“
Wenn alle so sind wie der Kerl da vorhin, dann sind wir ja von feinen Leuten umgeben. Helene bezwang den Zorn. „Also schnarcht der Gast da unten in seinem eigenen Sessel?“
Jenny lachte hell auf. „Du meinst Fritz? Er und mein Mohr trinken am schnellsten, vertragen am wenigsten und wissen nie, wann sie genug haben.“ Sie ging schon die Treppe hinab. „Komm, ich stell dich vor!“
„Nein danke. Nicht nötig.“ Helene eilte ihr nach. „Erst das Kind. So wartet. Wo kann ich es wickeln?“ Die Hausherrin war nicht aufzuhalten, schon halb im Wohnzimmer deutete sie kurz auf die Tür am Ende des Flurs. „Da vorn ist die Küche. Da findest du alles.“
Helene hatte eine Decke über den Tisch gebreitet. Vergnügt strampelte Klein-Jenny mit den nackten Beinchen, als ihr der Po abgewischt wurde. Die Baronesse brachte den Gast in die Küche. „Dies hier, lieber Fritz, ist die tüchtigste Helferin im Haushalt meiner Mutter. Ach, was sage ich, es gibt, nein es gab keine bessere in ganz Trier. Denn ab sofort wird sie der gute Geist in unsrem Hause sein.“
Langsam drehte sich Helene mit der durchnässten und verschmierten Windel zwischen den Fingern um. Betont respektvoll fuhr Frau Jenny mit der Vorstellung fort. „Und dies hier ist unser Freund und Nachbar Friedrich Engels.“
In dem bartumrandeten verkaterten Gesicht arbeitete es, die Erinnerung weitete die graublauen Augen. „Sehr ... ich bin sehr erfreut.“ Engels streckte die Hand zum Gruß.
Nur einen Schritt kam Helene näher, ehe er begriff, drückte sie ihm die schmutzige Windel in die Hand. „Gott zum Gruß.“ Gleich tat sie erschrocken. „Oh, verzeihen Sie! Das Kind ... ich war in Gedanken. Bitte stecken Sie die Schweinerei da zu den anderen in den Windeleimer.“
Ohne ein empörtes Wort, ohne die Miene zu verziehen, gehorchte Engels. Nachdem er sich die Finger gewaschen hatte, verneigte er sich sogar leicht. „Ich bin sicher, die Familie Marx ist bei dir in besten Händen.“
Ihr Blick sagte ihm, dass die Partie ausgeglichen war und keine Beschwerde nach sich ziehen würde. „Ich wünsche dir einen guten Start hier bei uns in Brüssel.“
Frau Jenny führte den Gast hinaus und Helene lächelte, während sie dem Kind die frischen Windeln anlegte.