Freunde kann man nicht zaubern

Auszug

Freunde kann man nicht zaubern Jetzt verließ Klaus die Randstraße, ging rechts auf dem Feldweg durch die Schrebergärten und nach hundert Metern stand er vor dem Bombenloch. Dieses Bombenloch war nichts anderes als ein ausgeschachtetes Erdloch. Warum hier kein Haus gebaut wurde, wusste niemand. Vielleicht hatten die Schrebergärtner sich beschwert, dass ein Haus an diesem Platz zu viel Sonne für ihr Gemüse, den Salat und die Blumen wegnehmen würde. Aber das war Klaus egal. Das Bombenloch war der Treffpunkt. Hier spielten die Kinder der Hochhaus-Siedlung.
Es lagen schon so viele alte Matratzen in der Grube, dass man Anlauf nehmen und sich vom Rand mit angezogenen Beinen wie eine Bombe hinunterfallen lassen konnte. Christian organisierte gerade einen Fliegerkrieg.
„Los! Der Karton auf der Matratze dahinter, das ist London, klar? Und der da auf der rot karierten – das ist Köln. Los! Wir haben Krieg, ihr Idioten!“
Die drei Jungen stellten die großen Pappkartons auf die vermoderten Matratzen. London, Köln, Berlin und Paris sollten heute bombardiert werden. Und Christian war der General. Christian war immer der General. Klaus konnte sich gar nicht vorstellen, dass Christian irgendwann mal nicht der Anführer sein würde.
Gerade spannte er die Lippen und stieß zwei gellende Pfiffe aus. „Paris ist dahinter, verdammt noch mal!“
Ja, Christian war stark! Der war schon zwölf. „Du holst mich nie ein, Mamasöhnchen“, hatte Christian gelacht. „Ich bin immer älter als du, merk dir das!“ Christian hatte schwarze Haare und ganz schiefe Zähne. Er konnte gut pfeifen, jeden Schlager und sogar richtig. Wie oft hatte Klaus versucht auch so laut zu pfeifen. Klar, mit gespitzten Lippen ging es, aber das hörte ja kaum jemand. So richtig laut, dass man es zwei Straßen weiter hören konnte, das brachte nur Christian fertig. Und wenn Klaus es auf zwei Fingern versuchte, dann kam mehr Spucke als Töne heraus. Nein, richtig pfeifen konnte nur Christian.
Er hatte jetzt die Jungen in zwei Viererreihen aufgestellt. Beate und Elke mussten in das Bombenloch hinunterklettern und die Sanitätsstation auf einem schimmlig braunen Koffer einrichten. „Alles herhören! Die erste Staffel bombardiert London und Paris. Die zweite Köln und Berlin. Wenn ein Karton kaputt ist, ist die Stadt hinüber. Klar? Ich mach die Flak. Sobald ich einen von euch erwischt hab, ist das Flugzeug hin. Und der muss dann zum Sanitäter.“
„He, Christian, darf ich auch?“ Klaus stellte sich zu den Jungen.
„Hau ab, Mamasöhnchen! Das ist nichts für dich, da machst du dich dreckig!“
„Aber ich kann doch auch springen.“
„Bestimmt. Ich zerstör `ne Stadt ganz allein.“
Christian grinste. „Dass ich nicht lache.“
„Wetten?“
` „Um was?“
Christian lachte. „Wenn du’s nicht schaffst....“ Er leckte mit der Zungenspitze über die schiefen Schneidezähne, „wenn du’s nicht schaffst, dann kann ich dir so richtig in den Hintern treten, ohne dass du wegläufst. Klar?“
Klaus schluckte. „Und, wenn ich’s schaffe? Dann, eh...“
„Na klar, dann kannste mir `nen Tritt geben!“
Es wurde ausgemacht, dass Klaus Köln zerstören sollt. Die acht Jungen der beiden Gruppen stellten sich um die Grube. Beate und Elke, die Sanitätsschwestern, standen neben ihrem alten Koffer und starrten nach oben.
Klaus wartete auf der Wegböschung. Wenn ich’s schaffe, wenn ich’s nur schaffe! Eigentlich ist es ja ein Kinderspiel! Klaus dachte an die Befreiung von Sir Gawain. Na, das bisschen Karton. Wie eine Bombe würde er es schaffen!
Die Anlaufbahn ging von der Wegböschung runter, über den Weg, dann noch zehn Meter fest getrampelte Erde mit ein paar Grasbüscheln und dann....
„Los mach schon!“ schrie Christian. Er stand an der Absprungstelle und schlug mit dem Arm große Kreise in die Luft. Klaus atmete tief und beugte sich vor. Wie bei der Olympiade, dachte er.
Schrill ließ Christian zwei Pfiffe gellen. „Na los, Mamasöhnchen!“
Klaus rannte die Böschung runter, über den Weg, die fest getrampelte Erde – die Grasbüschel...! Der linke Fuß verhakte sich. Klaus wurde nach vorn gerissen, machte kleine Schritte, unregelmäßige, fiel nicht und dann war er schon am Bombenloch. Für einen Moment sah er in das grinsende Gesicht des Generals, dann war er in der Luft. Er zog die Beine an. Fast zwei Meter sind tief, wenn man sie fällt! Da, da war Köln. Klaus landete direkt neben dem Karton auf der Matratze, sank ein, wurde leicht hochgewippt und rollte dann in den Abfall neben der rötlichen Matratze.
Für einen Moment blieb er liegen. Oben am Rand grölten die Jungen. Klaus rappelte sich auf Beate lachte, nur Elke nicht. Sie hielt ängstlich beide Hände vors Gesicht. Ihre Fingerspitzen zerteilten den braunen Pony wie ein großer Kamm. „Lauf weg! Nun lauf doch!“ rief sie. Klaus rannte los, aber die Jungen sprangen fast gleichzeitig in das Bombenloch. Klaus versuchte in jede Richtung auszuweichen, aber sie kamen von allen Seiten.
Wie ein Mensch in der Eiswüste, dachte er. Tagelang hat er sich die Wölfe vom Hals gehalten. Seit hundert Stunden hat er kein Auge mehr zugemacht. Heute Morgen hatte er mit der letzten Patrone einen Wolf erschossen und für einige Stunden hatte das Rudel ihn in Ruhe gelassen. Sie fraßen den toten Wolf, nur die blanken Knochen blieben übrig. Dann aber griffen die Wölfe ihn wieder von allen Seiten an. Jetzt war er der Übermacht unterlegen, jetzt war es aus! Die Jungen griffen ihn. Je zwei umklammerten seinen Arm.
„So, Mamasöhnchen. Endlich kann ich dir mal so in den Hinter treten, wie ich das schon immer wollte.“
Klaus presste die Lippen zusammen.
Elke lief zu Christian. Sie sank bei jedem Schritt tief in die verquollenen Matratzen ein. „Lass ihn doch in Ruhe.“
„Weg, blöde Ziege.“
„Ihr seid doch feige. Gemein seid ihr! Lasst ihn doch!“
Christian stieß einen Pfiff aus. Elke zuckte zurück. „Eh, Mamasöhnchen! Bin ich unfair? Du hast doch die Wette verloren, oder?“
Klaus nickte stumm und der General lachte Elke aus. „Na siehste. Was hab ich gesagt? Er hat verloren und jetzt kriegt er `nen Tritt.“
Das Mädchen ballte wütend die Hände und schüttelte den Kopf. Sie blieb neben Klaus stehen. „Du spinnst genauso wie die. Verflixt noch mal, das ist unfair und du gibst es nicht zu! Warum denn nicht?“
Klaus sah Elke an und grinste mit schmalen Lippen. Beate setzte sich auf den Koffer. „Lass ihn doch, Elke. Das sind alles Blödmänner. Da kannste nichts gegen machen.“
Elke lief zur Sanitätsstation zurück und stellte sich mit dem Gesicht zur Bombenlochwand.
Die Jungen schwiegen. Klaus hatte den Kopf gesenkt, alle anderen starrten auf den General. Breitbeinig stand er zwei Meter hinter seinem Opfer. „Pass auf, Mamasöhnchen. Ich hab `nen Schuss wie’n Fußballer, wie der Bomber der Nation!“
Die vier Jungen, die Klaus festhielten, grinsten, ein anderer rief: „Nun mach schon, Christian!“
Ohne noch mal vorzuwarnen, sprang der General auf Klaus zu und aus dem Sprung heraus schnellte sein Fuß vor. Er traf genau. Klaus stolperte nach vorn.
„Au verdammt, verdammt mein Fuß!“ Christian hüpfte auf dem linken Bein und hielt sich die rechte Sandale. „Verdammt. Au verdammt!“
Klaus kletterte, rutschte und kroch den schmalen Erdweg hoch. Hinter ihm jammerte Christian und die anderen lachten ihn aus. Weg hier, bloß nicht heulen. Diese gemeinen Hunde! Bloß weg hier,. Oben auf dem Rand blickte sich Klaus noch mal schnell um. Keiner der Bande sah ihm nach. Die Jungen kicherten und lachten über ihren jammernden General. Nur Elke stand immer noch mit dem Gesicht zur Bombenlochwand. Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf.